Das Letzte Kleinod

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Abschied und auch nicht

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von Ulrich Müller // Foto: Ingo Wagner

Für Abschiedsstimmung blieb gestern Abend keine Zeit, nach einem entspannten Beginn zog der Tag nach der letzten Besprechung im runden Zelt noch einmal mächtig an. Am Horizont schon der Abbau, auf der Liste der bis dahin noch zu erledigenden Dinge eine Vorstellung, Gespräche mit Zeitzeugen und zwei Fernsehteams. Am Ende des Tages waren alle erschöpft und durch und durch müde, die Energieanzeige des Teams stand weit unter Null.
Zuvor noch einmal höchste Konzentration auf den Wagons, wo der Efori-Chor noch besser als im ersten Durchlauf mitspielte. Dafür klemmte zu Beginn die Wagentür und ließ sich von innen beim besten Willen nicht weiter aufschieben – Jeroen konnte den Fehler während seiner Kletterpartie endlich glücklich beheben. Ansonsten lief die Aufführung glatt über die Bühne, und erneut fühlten sich danach rund 80 Zuschauer nicht nur bestens unterhalten, sondern zugleich tief berührt. Im Anschluss mussten der Chor und die Schauspieler noch eine Sonderschicht einschieben, denn das 3sat-Fernsehteam war erneut aus Tel Aviv angereist. Und während die Kollegen vom lokalen israelischen Sender im Zeltlager sogar den Abwasch gefilmt hatten, wünschte der Kultursender das Nachstellen einiger Szenen.
Zeitgleich liefen in einer der Baracken ein Zeitzeugen-Interview, in der Lobby angeregte Gespräche – alle waren nach wie vor gut beschäftigt. Liron Eckerstein berichtete von den Mails, die nach der ersten Aufführung im Museum Camp Atlit eingetroffen waren. „Dieser Abend war einer der schönsten, die ich in den letzten Jahren erlebt habe“, schrieb etwa ein Israeli, der die „Exodus“-Geschichte noch aus eigener Erfahrung kennt. Ein anderer Mann teilte mit, dass er in Marseille auf dem Schiff geboren wurde – auch bei ihm hatte das Stück einen tiefen Eindruck hinterlassen. Eine andere Gruppe hatte sich um einen Israeli versammelt, der von der Explosion auf einem der Gefängnisschiffe erzählte. „4500 Menschen, 4500 Geschichten“, heißt es in der Inszenierung.
Besonders rührend fiel der Abschied vom Efroni-Chor aus, es gab herzliche Umarmungen und viele Fotos mit den Schauspielern und dem Produktionsteam. Ein Dankesbrief drückt die Begeisterung der Mädchen und Jungen aus, und da sie von den Eltern geteilt wird, überlegt man mittlerweile auf beiden Seiten ganz konkret, wie sich die Zusammenarbeit in Deutschland fortsetzen ließe. Ein Umdenken hat Das Letzte Kleinod zudem bei den israelischen Offiziellen des Camps Atlit bewirkt, denn während diese dem Projekt anfangs skeptisch und mit aller verständlichen Vorsicht gegenüberstanden, wollen sie ähnlichen Anfragen nun offener begegnen. Der Abschied war auch hier herzlich und wurde mit arabischem Gebäck zusätzlich versüßt.
Heute morgen kehrte dann deutsche Disziplin zurück: Um 7.30 Uhr Frühstück, um 8 Uhr Beginn des Abbaus, aber zack, zack. Schließlich möchte man gegen Mittag noch an den Strand, bevor sich die Gruppe in alle Winde verstreut. Vorerst, denn in Emden gibt es ja ein Wiedersehen. Neben der israelischen Sonne wird dann allerdings Michals Küche fehlen. Aber zum Glück gibt es ja die Erinnerung…


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Nach der ersten Werkstatt-Aufführung

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von Ulrich Müller

Donnerstagmorgen, die Schlacht um die „Exodus“ ist geschlagen. Gerade zieht eine Einheit des israelischen Militärs in Uniform über das Camp Atlit. Die Pistolen stecken griffbereit in den Halftern, jede Menge Maschinengewehre sind dabei. Andere Länder, andere Umstände – das wird in Israel tagtäglich deutlich. Schnellboote auf dem Mittelmeer, eine Armeekaserne um die Ecke, ab und zu sind Schüsse, Salven oder Geschütze zu hören. „Ich war in der Armee. Meine Frau war in der Armee. Meine drei Kinder und alle anderen waren in der Armee. Wir sind Israel!“, sind Moshes Schlussworte im „Exodus“-Stück. Gestern Abend wurden sie wie bestellt von zwei knatternden Militärhubschraubern begleitet.
Mittwochabend, 19 Uhr: Auch wenn man von einer „Werkstatt-Aufführung“ spricht, ist das der Moment, auf den alle hingearbeitet haben. Die erste „Exodus“-Aufführung vor zahlendem Publikum, und um es kurz zu machen: Sie wurde ein voller Erfolg. Rund 80 Besucher hatten sich am Eingangsgebäude versammelt, darunter auch eine Gruppe, die extra aus Deutschland angereist war. Nach einer kurzen Einführung ging es am leise singenden Efroni-Chor vorbei in Richtung Wagons. Die Schauspieler mitten in der Gruppe, Shaul mit seinem Kontrabass im Abendlicht auf der Wiese – ein starkes erstes Bild.
Und weitere starke Bilder prägten den Verlauf der Aufführung. Aufbruchsstimmung, später Wut und Verzweiflung, der Anblick von Haifa und die Enge auf den Schiffen: Es lief wie von selbst und bei der Hatikwa sangen etliche Israelis im Publikum mit. Uta Lorenz und Luise Bundschuh unterstützten in den Wagen den Chor, der Rest des Produktionsteams konnte sich mehr oder weniger entspannt zurücklehnen, den Schauspielern zusehen und endlich das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit genießen. Der Schlussapplaus setzte erst nach einem langen Moment des Innehaltens ein und steigerte sich noch, als sich Regisseur Jens-Erwin Siemssen und Dramaturgin Lisa Kämpter mit zu den Akteuren stellten.
„Unglaublich beeindruckend“, lautete der spontane Kommentar einer Besucherin aus Bremerhaven, und auch die Reaktionen der israelischen Zuschauer waren sehr emotional. „Vielen, vielen Dank“, meinte etwa Liron Eckerstein, die Leiterin des Ha’Maapilim Camps, und suchte nach passenden Worten. Ein Dank, den man unbedingt zurückgeben möchte: Die Entscheidung, Das Letzte Kleinod mit dem Stück auf dem Museumsgelände proben und spielen zu lassen, war couragiert, die anschließende praktische Unterstützung freundlich und höchst willkommen. Die Aufführung und die gute Resonanz haben den Verantwortlichen nachträglich Recht gegeben, jetzt sind alle auf den heutigen zweiten Durchgang gespannt.
Nach der ausgiebigen gestrigen Feier waren ein freier Vor- und Nachmittag nötig, einige im Ensemble nutzen ihn für Ausflüge, andere planen ihren weiteren Aufenthalt im Land. Wo übrigens neben dem Sabbat mit Montag ein weiterer Feiertag hinzukommt, an dem der öffentliche Verkehr ruht. Israel ist eben anders, und das in vielerlei Hinsicht.


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Erste Abschiedsgedanken und letzte Vorbereitungen

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von Ulrich Müller

„We saw Israel, and they sent us back!“ Produktionmitarbeiterin Adi Liraz gab gestern bei einer Leseprobe der hebräischen Textpassagen die Stichworte für Cnaan Shahak, der bei der „Exodus“-Inszenierung im Camp Atlit eine tragende Rolle spielt. Wir haben Israel gesehen und müssen zurück – ein bisschen Wehmut schwingt am heutigen Mittwoch bereits mit. „Es ist fast zu Ende. Schade eigentlich“, bringt es Jens-Erwin Siemssen bei der morgendlichen Teambesprechung auf den Punkt und richtet den Blick nach vorne: „Wir können jetzt beginnen, an Emden zu denken.“
Aber zunächst steht heute um 19.30 Uhr Ortszeit der erste öffentliche Durchlauf von „Exodus“ auf dem Programm, und nach außen hin hat sich die Anspannung der letzten Tage in abgeklärte Ruhe verwandelt. Nach außen hin, wohlgemerkt, denn selbst wenn aufgrund der kurzen Zeit für die Proben von Werkstatt-Aufführung gesprochen wird, sind doch gespannte Zuschauer anwesend. Wie der Abend besucht sein wird, kristallisiert sich erst langsam heraus, 70 Sitzplätze stehen auf jeden Fall bereit.
Die Schauspieler sind heute morgen am Hafen von Haifa, nicht zum Vergnügen, sondern für Aufnahmen mit dem Kameramann Cengiz und Fotograf Ingo. Am Nachmittag wird dann neben dem Efroni-Chor in der Hektik der letzten Proben noch ein Fernsehteam erwartet – man muss eben an seinen Aufgaben wachsen. Überhaupt ist hier im Camp jeder von morgens bis abends beschäftigt. Die Planung muss stimmen, der am improvisierten Büro ausgehängte Tagesablauf wird oft frequentiert und hilft manchmal weiter. Sehr wichtig für das gute Gruppengefühl sind dabei nach wie vor die Essenszeiten.
Und wenn einmal nicht ein Rädchen ins andere greift, gibt es plötzlich und unerwartet Leerlauf. So etwa gestern nachmittag, als der Ausflug der Schauspielerinnen zu zwei im Altersheim lebenden Zeitzeuginnen länger dauerte, als vorher erwartet. Aber für Claudia Schwartz, Gonny Gaakeer und Sonia Scheynkler war der Besuch bei Lea und Genia ein großer Gewinn. „Ein absolut wichtiges Gespräch, das sich auf die Gestaltung unserer Rollen auswirken wird“, sind sich die drei sicher. „Man realisiert auf einmal, dass man es nicht bloss mit Theaterfiguren, sondern mit Menschen und ihren Schicksalen zu tun hat.“
Prioritäten setzen muss auch Kostümbildnerin Tamar Ginati, die ihr Handwerk in Israel, in London, Prag und Berlin gelernt hat. Wenn sie bei der Besprechung eine Stunde für die Kostümprobe fordert, bekommt sie meist nur 45 Minuten. „Damit kann ich leben“, sagt sie mit einem Lächeln und erzählt, dass Inspiration und Recherche die Grundlage ihrer Arbeit sind. „Man muss das Beste aus der zur Verfügung stehenden Zeit machen“, meint Tamar, die in der Nähe von Jerusalem aufgewachsen ist und schon als Teenager ihre Liebe zum Theater entdeckt hat. „Am Ende muss eben alles zusammenpassen, und ich denke, das tut es hier.“ Ein besseres Schlusswort für diesen Beitrag kann es nicht geben, und hier sind alle sicher, dass sich die Aussage am heutigen Abend bestätigen wird.


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Andere Bilder und ein Besuch vom Efroni-Chor

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von Ulrich Müller

Eine Schulklasse hat im Camp Atlit bereits den Schatten aufgesucht, für das Kleinod-Ensemble dagegen gilt es auch am Dienstag keine Zeit zu verlieren. Viel zu tun, lautet wieder einmal die Devise, und das bei herrlichem Wetter. Gestern zogen am Nachmittag ein paar Wolken auf, ansonsten herrscht durchgängig und in jeder Hinsicht eitel Sonnenschein. Wie in Deutschland schaut man auch hier jeden Morgen in den Himmel, aber während der daheim stets für eine böse Überraschung gut ist, präsentiert sich das israelische Pendant verlässlich in einladendem Blau.
Noch schöner ist für mich als Journalist allerdings, diesmal den Entstehungsprozess einer Produktion begleiten zu können. „Mittendrin statt nur dabei“ wird so zu mehr als einem Slogan – die Hochachtung für die Leistungen der Regie, Dramaturgie und Werkstätten, der Schauspieler und Techniker wächst mit jedem Tag. Dass Theater Arbeit bedeutet, ahnte man ja schon vorher, aber wie viel Arbeit, kann sich der Besucher einer fertigen Inszenierung eigentlich nur schwer vorstellen. Verblüffend sind auch die Fortschritte, die bei konzentrierten Proben innerhalb kürzester Zeit gemacht werden können. Wer beim ersten kompletten „Exodus“-Durchlauf dabei war, musste zwei Tage später beim zweiten glauben, es wären Wochen vergangen.
Und man sammelt ganz andere Bilder. Das von Shaul Bustan, der am Abend ganz allein und in sich versunken auf dem kleinen asphaltierten Parkplatz bei den Zelten steht, in der einen Hand die Noten hält, mit der anderen dirigiert und dazu singt, ist eines meiner liebsten. Heute allerdings ist Aktion in der Gruppe angesagt, denn der Efroni-Chor ist zum ersten Mal mit auf dem Gelände. Die Aufregung hat sich bei den jungen Sängerinnen und Sängern bald gelegt, schließlich hat der 1981 gegründete Chor reichlich Bühnenerfahrung und ist nicht nur in Israel, sondern in vielen europäischen Ländern, in China, Japan, den USA und Kanada aufgetreten. „Insgesamt haben wir zurzeit 45 Mitglieder zwischen 12 und 18 Jahren“, erzählt Nathalie Goldberg, während sich die sechzehn angereisten Mädchen und ihre beiden männlichen Kollegen vorbereiten. „Leider sind davon nur fünf Jungen“, bedauert die Chorleiterin. Zumindest dieses Problem ist anscheinend international.
Auf in den Wagon: Gemeinsam mit den Schauspielern wird eine Szene geprobt, die die „Exodus“ auf dem Weg nach Palästina zeigt. Ein ausgelassener Tanz und ein fröhliches Lied, bei dem die zusätzlichen Stimmen die Wirkung des unbeschwerten Moments enorm verstärken. „A plane!“, ruft Jeroen Engelsman plötzlich, die Engländer haben das Schiff entdeckt und die Stimmung an Bord kippt. Im Efroni-Chor bleibt sie trotzdem prima: „Wir haben uns vorher schon sehr auf dieses Projekt gefreut“, sagt eines der Mädchen. „Und jetzt ist es einfach toll, hier mitzumachen“, ergänzt eine zweite junge Sängerin. Das Letzte Kleinod hat heute weitere Fans in Israel dazu gewonnen.


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Business as usual am Montagmorgen

von Ulrich Müller
„Hattet ihr ein schönes Wochenende?“, fragt Produktionsleiterin Uta Lorenz zur Begrüßung in die Runde. Acht Uhr morgens, das Frühstück ist im „Detention Camp Atlit“ zu dieser Zeit bereits gegessen. Gestern noch Ausflüge nach Haifa, nach Akko oder ein kurzer Heimaturlaub, heute zurück in den Alltag. Die Schauspieler machen sich in der Sonne warm, das restliche Team sitzt zur Planung der nächsten Tage im runden Zelt zusammen. Wie viele Besucher werden am Mittwoch erwartet? Gibt es genug Stühle? Können die klemmenden Fenster der Wagons gängiger gemacht werden? Wer hat Fahrdienst? Und wer hilft der Köchin, die morgen Mittag zusätzlich den 20-köpfigen Mädchenchor versorgen muss?
Die Fragen sind vielfältig, Organisation ist alles, Langeweile kommt heute nicht auf. Gestern dagegen gehörte das Camp den Besuchern. Es herrschte reger Betrieb und immer wieder wurden interessierte Blicke auf das Kleinod-Zeltlager geworfen. Nahezu alle Israelis kennen das ehemalige Internierungslager, denn das Museum in Atlit gehört wie die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zum Pflichtprogramm der hiesigen Schulen. Tamar Ginati war als Elfjährige mit ihrer damaligen Klasse hier, und auch die anderen Israelis im Ensemble erinnern sich an ihre erste Begegnung mit dem historischen Ort.
Business as usual dann aber schon am gestrigen Abend, die Schauspieler nutzten die Zeit nach dem Essen trotz mehr oder weniger lädierter Füße für eine Leseprobe. Gesprochen wird im Stück auf Deutsch, Englisch und Hebräisch, der Text allein ist also eine echte Herausforderung. Und bei weitem nicht die einzige. Wie tief die Akteure in ihre Rollen eingetaucht sind, kann erleben, wer hinter Gonny Gaakeer die Allee zum Hauptgebäude entlang geht. Im ersten Moment sieht es so aus, als wolle die Schauspielerin nur mit ausgestreckten Armen den kühlenden Wind genießen. Dann allerdings sind Worte zu hören, die zu Sätzen werden, verwandeln sich die Bewegungen dazu in bewusste Gesten. Jede Chance zum Arbeiten wird von allen intensiv genutzt.
Mittlerweile werden die im runden Zelt erteilten Aufträge umgesetzt, Thimo Kortmann, der gemeinsam mit Lavran Siemssen die Technik-Abteilung bildet, werkelt noch einmal an den äußerst widerspenstigen Wagonfenstern. Eine halbe Stunde später haben dann die fünf Schauspieler übernommen, hocken eingezwängt unter den Wagen, klettern mutig daran herum oder zwängen sich zwischen die engen Gitter – blaue Flecken sind bei diesem Job inklusive. Das Produktions-Team gibt Anweisungen und streicht im Skript, zwischendurch sammeln sich alle zusammen zur Besprechung im Schatten eines alten Baumes.
Noch eine kurze Rückblende auf den Samstagmorgen: Sabbat-Probe am ansonsten menschenleeren Strand. Die Schauspieler erzählen die Lebensgeschichten ihrer Figuren, lassen sie Haifa erreichen und voller Hoffnung die haTikwa anstimmen. Ein Gänsehaut-Moment selbst vor der friedlichen Mittelmeerkulisse – man darf gespannt sein, wie diese Hymne wirkt, wenn sie morgen im Wagon vom Chor mitgesungen wird.


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Die Ruhe vor dem Sturm


 
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von Ulrich Müller // Foto: Thimo Kortmann
Abendstimmung im „Detention Camp Atlit“, und wer im Kopf den niemals endenden Verkehrsstrom zu einem beruhigenden Rauschen dimmen kann, darf jetzt gerne von Idylle sprechen. Die weißen Zelte stehen im Halbdunkel, Handtücher und frisch gewaschene Kleidungsstücke hängen auf den Leinen und bewegen sich leicht im Wind. Die Zikaden sorgen für neue Geräusche, die Palmen und Bäume werden wie der Wachturm auf der Düne zu Silhouetten. Das Museumsschiff „Galina“ ist im verschwindenden Licht bereit für die letzte Reise, ganz oben auf dem vorderen der beiden Masten sitzt regungslos ein großer Vogel.
Die bleiche Mondsichel, die ersten Sterne und die Lichter von Haifa am Horizont: Der Blick in Richtung Mittelmeer ist ohne Frage postkartenreif. Nur fünf Minuten Fußweg, bloß über den nächsten Hügel und durch den niedrigen Tunnel unter der Bahnlinie hindurch, und man könnte das friedliche Bild vom einsamen Strand aus genießen. Aber daran denkt im runden Zelt heute niemand, denn der erste Durchlauf der „Exodus“-Inszenierung liegt vor dem Ensemble. Zuvor gilt es allerdings noch die köstliche Suppe zu löffeln, was diesmal ziemlich mechanisch und ohne die gebührende Anerkennung passiert. Zumindest die Schauspieler werden hinterher wohl kaum sagen können, was sie da eigentlich gegessen haben. Konzentrierte Gesichter rund um die Tische, die Anspannung ist enorm.
Die Regel, bei den Mahlzeiten nicht über die Arbeit zu sprechen, hat sich an diesem Abend von selbst erledigt. Gonny Gaakeer und Jeroen Engelsmann sitzen Cnaan Shahak gegenüber, wiederholen über den leeren Tellern immer wieder auf Hebräisch zwei Sätze und lassen von ihrem Kollegen die Aussprache korrigieren. Letzter Feinschliff auch bei Sonia Scheynkler und Claudia Schwartz, die stumm ihre Texte memorieren. Die dramaturgische Abteilung steckt ebenfalls noch einmal die Köpfe zusammen, die Techniker sind bereits zu den letzten Vorbereitungen aufgebrochen. Draußen noch eine letzte hastige Zigarette und ein paar aufmunternde Scherze, die Atmosphäre scheint trotz aller Ablenkungsversuche elektrisch aufgeladen zu sein. Im nächsten Moment müssten wir eigentlich die Funken sprühen sehen – gut, dass es Zeit für den Aufbruch zu den Wagons, zum Anlegen der Kostüme, für den Ernstfall ist.
„Das ist ein Moment, den ich sehr liebe“, meint Regisseur Jens-Erwin Siemssen, der sich an den letzten beiden Nachmittag bewusst aus den Proben herausgehalten und viele Aufgaben delegiert hat. „Es ist jetzt nicht nur mein Stück, sondern das des gesamten Ensembles. Alle stehen zusammen in der Verantwortung, alle werden ihr Bestes versuchen.“ Die Ruhe vor dem Sturm – und mehr wird vorerst nicht über den ersten Durchlauf verraten. Nur soviel noch: Da Jens-Erwin Siemssen sehr genau weiß, was er seinen Mitarbeitern an diesem Abend abverlangt, haben am heutigen Sonntag alle frei. Das Ensemble hat sich diesen Ruhetag verdient.


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Sabbat und ein Blick in den „Bunker“

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von Ulrich Müller
Dass am Sabbat in israelischen Hotels die Aufzüge so codiert werden, dass sie automatisch in jedem Stockwerk halten und keine Knöpfe gedrückt werden müssen, ist in jedem Reiseführer nachzulesen. Der Ruhetag, der vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Einbruch der Dunkelheit am Sonnabend dauert, wird im Land ernst genommen. Je nach religiöser Einstellung sogar sehr ernst: Der öffentliche Verkehr ruht, und orthodoxe Juden verzichten auf die Benutzung von Autos und auf das mit Feuer verbundene Rauchen.
So weit wollten wir gestern im Camp Atlit nicht gehen, aber auch für das „Exodus“-Ensemble sollte der Sabbat etwas Besonderes sein. Deshalb wurde er mit einem Festmahl eingeleitet, bei dem zum am Nachmittag in einem arabischen Dorf gefangenen und frisch gegrillten Fisch gewürzter Reis, leckere Linsen (!) und kleine süße Kuchen auf dem Speiseplan standen. Shaul Bustan übernahm im runden Zelt mit Hingabe die Rolle des Zeremonienmeisters, sprach die passenden Gebete, brach das Brot und animierte zum gemeinsamen Singen. Das Weinglas und die Schale zum Händewaschen gingen herum, die Stimmung war schon beinahe feierlich. Neben Shaul waren Köchin Michal Dadon und Bühnenbildnerin Tamar Ginati als Israelis gesuchte Gesprächspartner. Ein anderer Experte fehlte allerdings diesmal in der Runde, denn Schauspieler Cnaan Shahak feierte den Abend bei seinen in der Nähe wohnenden Verwandten.
Wir wünschen ihm natürlich, dass er dort genauso gut gegessen hat wie wir. Ein großes Lob ist ohnehin mal angebracht: Was Michal morgens, mittags und abends auf die Tische zaubert, ist einfach klasse! Gemüse können eben doch Abwechslung auf die Teller bringen, Reis ist nicht gleich Reis und ein Linsengericht mit Granatapfelkernen bestimmt für die eine oder den anderen eine ebenso spannende wie lohnende Entdeckung. Und dass die erfahrene Köchin ihre Zutaten, Kräuter und Gewürze nicht im Supermarkt, sondern auf kleinen lokalen Märkten kauft, kann man einfach schmecken.
Sabbat hin oder her und zurück zur Hauptsache – geprobt wurde am Samstag natürlich trotzdem. Am Vormittag traf sich das Ensemble dazu ganz entspannt am Strand, am Nachmittag dann im bestenfalls wegen des latenten Geruchs atemberaubenden „Bunker“. In diesem Raum haben Shaul und Tamar ihre Werkstätten, und einen gewissen Glanz verbreitet dort vor allem der polierte Kontrabass. Ein Laptop mit Klaviertastatur gehört ebenfalls zur Grundausstattung des in Israel geborenen und seit 2011 in Berlin lebenden Musikers, der über seine Verlobte zur Gruppe gestoßen ist. Claudia Schwartz wiederum erinnert sich noch bestens an ihr eigenes Casting. „Februar letzten Jahres, bei Eiseskälte um neun Uhr morgens auf einem Schiff in Hamburg. Ein wirklich legendäres Vorsprechen“, so die Schauspielerin. Aber Ende gut, alles gut: Für Atlit hat sich das Frieren gelohnt.


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Camping unter speziellen Umständen

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von Ulrich Müller // Foto: Lavran Siemssen
Gestern bin ich auf dem Weg zum Hamburger Flughafen in Geestenseth am Ozeanblauen Zug vorbeigerollt. Heute sind die Wagons hellgrau und stehen in Israel. Genauer in Atlit, fast unmittelbar am Mittelmeer und etwa 15 Kilometer von Haifa entfernt. Noch genauer im ehemaligen Internierungslager der Ortschaft, wo die britischen Mandatsträger für Palästina unerwünschte jüdische Einwanderer festsetzten und Das Letzte Kleinod seit ein paar Tagen an der „Exodus“-Inszenierung arbeitet.

Luxus gibt es hier nicht. Auch nicht für die Frauen und Männer, die das Stück auf die Beine stellen und direkt im Lager in unmittelbarer Nähe zu einer Hauptverkehrsader in Zelten untergebracht sind. Die Produktion bestimmt den Tagesablauf, nach dem gemeinsamen Frühstück stehen Besprechungen und Proben auf dem Programm, nach der Mittagspause folgt mit aufgefrischter Energie die nächste Runde. Aber die Stimmung ist ebenso gut wie das Wetter, das nachts für feuchte Kälte, tagsüber für sengende Hitze sorgt. Und dass das „Detention Camp Atlit“ein ganz besonderer Ort ist, ruft nicht zuletzt der Rückweg vom herrlichen Strand in Erinnerung. Man geht auf zwei imposante Palmen und zwei hohe Wachtürme zu.

Außergewöhnliche Geschichten und mit ihnen verbundene Orte: Das Letzte Kleinod hat in Israel beides gefunden. Das Internierungslager Atlit ist ein Originalschauplatz, an dem schon ein erster kurzer Rundgang die Vergangenheit lebendig werden lässt. In den Baracken ist die Unterbringung der „Displaced People“dokumentiert, neben dem alten Bus steht ein Soldat in der damaligen britischen Uniform. Einer der acht Wachtürme ist ebenfalls mit einer lebensgroßen Puppe besetzt, eine magere Katze streicht an olivgrünen Lastkraftwagen und zwei Kettenfahrzeugen mit aufmontierten Maschinengewehren vorbei. Und überall hat Das Letzte Kleinod bereits seine Spuren in Form von Scheinwerfern, Kisten und anderen Gegenständen hinterlassen – kleine Veränderungen mit starker Wirkung.

Bei der Ensemble-Besprechung im Schatten geht es um jüdische Rituale, und die Expertenmeinung von Komponist und Musiker Saul Bustan ist dabei immer wieder gefragt. Was gibt es für Gebete, wie unterscheiden sie sich bei den verschiedenen Nationalitäten? Welche Rolle spielt der Rabbiner, welche die Frauen? Von der Theorie zur Praxis und gerne auch zum Gesang, in den drei Wagons werden anschließend die Wehklagen und das Rollen der Schiffe im heftigen Seegang umgesetzt. Ein letzter Szenenwechsel in der Mittagssonne und doch noch einmal zurück nach Hamburg: Die „Exodus“fährt die Elbe herauf, die Flüchtlinge werden mit Gewalt vom Schiff getrieben. Die ersten Eindrücke aus Atlit machen unbedingt Lust auf mehr.

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